Whangarei, Februar 1920
Vivian warf sich mit voller Wucht auf das Hotelbett. Es machte bedenkliche Geräusche, als würde es gleich durchbrechen. Vivians Atem ging stoßweise. Sie war den ganzen Berg von Matuis Dorf bis zu dem Hotel hinuntergerannt. Nur um kein einziges Wort mit Fred wechseln zu müssen. Matui war während seiner Erzählung wie schon am Tag zuvor immer matter geworden, und zum Schluss waren ihm die Augen zugefallen.
Vivian aber hatte es noch rechtzeitig geschafft, ihn zum Aufstehen zu bewegen, bevor er auf dem Stuhl einschlafen konnte, und hatte ihn danach behutsam zu seinem Schlafplatz geführt. Nachdem der alte Mann ihr das Versprechen abgenommen hatte, am nächsten Tag wiederzukommen, hatte sie sich heimlich fortgeschlichen.
Wahrscheinlich wartet Fred immer noch in der Küche auf mich und denkt, ich singe den alten Maori in den Schlaf, dachte Vivian. Sie erschauderte, als sie an die Geschichte der beiden Ziehkinder des Reverends dachte.
»Ach, Maggy!«, seufzte Vivian, und wieder überkam sie mit aller Macht ein Gedanke, der während Matuis Erzählung immer wieder durch ihren Kopf gekreiselt war. Ob es Maggy war, die ihr, Vivian, dieses exotische Aussehen vererbt hatte?
Ein forderndes Pochen an der Tür riss Vivian aus ihren Gedanken, und sie wusste sofort, wer es war. Zögernd erhob sie sich. Nachdem sie wie ein kleines Kind vor Fred davongerannt war, wäre es mehr als lächerlich gewesen, nun so zu tun, als sei sie nicht zu Hause. Sie strich ihr Kleid glatt, fuhr sich flüchtig durch das Haar und öffnete.
»Was soll das? Warum läufst du vor mir weg, als wäre ich ein Verbrecher?«, fragte Fred unwirsch. Er sah immer noch erschöpft aus mit den dunklen Rändern unter den Augen und seiner blassen Gesichtsfarbe.
»Ich wollte allein sein«, erwiderte sie nicht minder schroff und fügte versöhnlicher hinzu: »Kannst du das nicht verstehen nach allem, was geschehen ist? Ich werde gerade mit der Geschichte meiner Vorfahren konfrontiert. Vorfahren, von deren Existenz ich nichts geahnt habe. Und das erzählt mir nicht der Bischof, sondern ein alter Maori. Langsam dämmert es mir, warum ich so anders bin als ihr alle. Weil Maori-Blut durch meine Adern fließt... Ich ...« Sie brach ab und zog ihn am Ärmel in ihr Zimmer. »Es muss ja nicht gleich das ganze Hotel mit anhören. Besonders nicht deine Braut und ihr Vater.«
Fred schloss die Tür hinter sich.
»Du glaubst also, dass du eine Nachfahrin von Maggy bist?«
Sie nickte und versuchte zu verhindern, dass sich ihre Blicke trafen.
»Das könnte sehr gut sein und würde erklären, warum Matui so auf dich geflogen ist, als er dich das erste Mal gesehen hat. Du wirst es noch herausfinden, wenn ich fort bin.«
»Fort?«
»Ich komme, um mich von dir zu verabschieden«, murmelte Fred.
Augenblicklich vergaß Vivian ihre guten Vorsätze, jeglichen Blickkontakt zu vermeiden, und sah ihm unverwandt in die Augen.
»Was soll das heißen?«, fragte sie erschrocken.
»Das heißt, dass ich nach Auckland zurückkehre und ...«
»Und was ist mit mir? Ich muss die Geschichte zu Ende hören, doch wenn du nicht bei mir bist...«, brach es verzweifelt aus ihr heraus.
»Deshalb bin ich hier. Ich möchte mit dir besprechen, was wir tun können, damit du in Ruhe anhören kannst, was Matui Hone Heke dir zu sagen hat. Und zwar ohne dass mein Vater auf den Gedanken kommt, dich mit Gewalt zurückzuholen.«
»Ich gehe ohnehin nicht mehr in sein Haus zurück«, entgegnete Vivian wild entschlossen.
»Aber wohin willst du denn?«
»Ich nehme das nächste Schiff nach England zurück, wenn hier alles vorbei ist...«
»Aber du bist doch noch nicht volljährig und hast keinen Menschen in London, der für dich sorgen kann.«
»Doch, die Eltern meiner besten Freundin Jane, die haben Mutter schon damals, als sie krank wurde, das Angebot gemacht, dass ich bei ihnen leben könne. Das hat meine Mutter abgelehnt, weil ich unbedingt nach Neuseeland zu meinem Vater sollte. Aber du siehst doch, dass es nicht geht, mit ihm und mit mir und mit den ganzen Lügen. Ich kann da nicht leben, vor allem wenn du nicht mehr dort wohnst.« Sie schlug sich erschrocken eine Hand vor den Mund.
»Vivian, bitte, warte ab! Ich habe vieles zu klären, denn ich bin völlig durcheinander. Komm nach Auckland zurück. Bitte!«
»Ich kann nicht!«, entgegnete sie trotzig. »Ich will nach Hause zurück, aber nicht ohne dass das Geheimnis meines Andersseins gänzlich geklärt ist. Aber bitte verrate dem Bischof nicht, dass ich fortgehe! Sag ihm, ich ... ich schreibe noch an einer Geschichte, weil Mister Morrison es so will.«
»Ich weiß nicht, ob ich das verantworten kann. Und außerdem möchte ich nicht, dass du für immer fortgehst.«
»Es ist das Beste für uns alle. Glaub mir. Du hast dein Leben, deine Lügen, deine Braut, die ...«
Fred verschloss Vivian den Mund mit einem Kuss. Sie kämpfte mit sich. Sollte sie ihn von sich stoßen oder das tun, was ihr Herz in diesem Augenblick befahl: Küss ihn, es kann das letzte Mal sein!
Vivian gab schließlich ihren Widerstand auf und erwiderte seinen Kuss leidenschaftlich. Nach einer halben Ewigkeit löste er seine Lippen von ihren und seufzte: »Du hast recht. Ich habe mein Leben hier, auch wenn es auf einer Lüge aufgebaut ist; aber mein Traum, ein großer Zeitungsmann zu werden, ist zum Greifen nahe. Ich bin nicht so stark, alles aufzugeben für...« Er stockte und wandte den Blick verlegen ab.
»... eine kleine Maori? Eine kleine Maori! Sprich es nur aus! Es ist die Wahrheit.«
»Nein, für ein Leben, das mich dorthin zurückwerfen könnte, wo ich hergekommen bin«, presste er verzweifelt hervor. Er sah sie gequält an. »Ich kann mich noch genau an alles erinnern. An den Dreck in der Hütte am Rande der Stadt, den Gestank von Alkohol, wenn Vater aus dem Pub gewankt kam, Mutters Schreie, wenn er sie schlug. Die klammheimliche Freude, als er tot war. Und dann das Wunder. Der Reverend, der meinem Vater geistlichen Beistand gewährt hatte, bevor man ihn hängte, holte Mutter als Haushälterin zu sich.«
»Dein Vater wurde gehängt? Das ist ja entsetzlich!«, entfuhr es Vivian.
»Er hatte es verdient. Drei Menschen hatte er auf dem Gewissen. Er hat uns geschlagen, und Mutter hat nie wieder von ihm gesprochen, nachdem wir zu Reverend Newman gezogen sind. Wir wohnten plötzlich in einem richtigen Haus, ich hatte echtes Spielzeug, und dann der Umzug nach Auckland ... Kannst du das verstehen?«
»Aber das ist ja ...«
Vivian war fassungslos, doch er sprach ungerührt weiter. »Du musst das verstehen. Ich kann meiner Familie später etwas bieten, meinen Kindern ...«
»Ich möchte, dass du jetzt gehst, Fred«, unterbrach Vivian ihn mit fester Stimme. Obwohl es ihr schier das Herz brechen wollte und sie ihn am liebsten in den Arm genommen hätte, weigerte sich etwas in ihr ganz entschieden, seine Feigheit zu entschuldigen. Sie hatte schließlich auch nicht im Luxus gelebt und würde sich, um in Zukunft ein sorgenfreies Leben zu führen, trotzdem niemals derart verbiegen.
»Aber ... aber was soll ich denn bloß tun? Du selbst hast doch gesagt, dass ich mein Leben habe und meine Braut...«, stammelte Fred, während sich auf seinem Gesicht hässliche rote Flecken ausbreiteten.
»Liebst du Isabel?«
»Ja ... nein, ich mag sie, sie ist eine attraktive Frau, sie ...« Er stockte, bevor er heiser fortfuhr: »Ich habe mich in dich verliebt, Vivian. Mein Herz gehört dir.« Er trat einen Schritt auf sie zu, wollte sie küssen, doch Vivian verschränkte abwehrend die Hände vor der Brust.
»Und dafür soll ich dir um den Hals fallen? Dafür, dass du mir offen ins Gesicht sagst, dass du mit mir ins Bett gehen, während du deine Isabel zum Altar führen willst?«
»Das ist nicht wahr. Natürlich begehre ich dich, und ich könnte mir durchaus vorstellen, dass du meine Frau wärst, aber allein der Gedanke, ganz von vorn anzufangen und ...«
»Du machst dein Herz zu einem Sklaven deiner gesellschaftlichen Stellung und eines Lebens in Wohlstand? Du tust mir leid. Gut, dass du so vernünftig bist. Denn mit mir müsstest du sicher in einer Hütte hausen. Leb du nur dein falsches Leben als der Bischofssohn, der die Verlegertochter heiratet. Ich stehe dir nicht im Weg. Mir kann dieses Leben gestohlen bleiben, wenn es hier drinnen nicht stimmt.« Vivian deutete auf ihr Herz.
»Aber so versteh doch! Wenn du das einmal erlebt hast, die Angst, dass du dorthin zurückmüsstest, die sitzt so tief...«
»Ich weiß«, erwiderte sie kalt. »Ich weiß. Meine Mutter und ich haben in einem einzigen Zimmer gewohnt. Oft hatten wir keine Kohlen im Winter, und London ist kalt. Wenn ich nicht eine Freundin gehabt hätte, deren Eltern einen Narren an mir gefressen hatten, wir hätten häufig keinen Schlaf gefunden vor bohrendem Hunger. Ach ja, und dann kam ja noch das Geld vom Bischof, in dessen Haus nun ein neuer kleiner Prinz Newman wohnte. Aber ich ziehe lieber wieder in ein kaltes Zimmer als in ein kaltes, verlogenes Haus, geschweige denn in ein verlogenes Leben. Du hast eben kein Rückgrat.«
Die Flecken in Freds Gesicht leuchteten jetzt feuerrot.
»Du sitzt auf einem verdammt hohen Ross!«, fauchte er. »Und du verurteilst mich einfach in Bausch und Bogen. Was meinst du, was mir die Sache mit Matui für einen Höllenärger eingebracht hat? Mein Schwiegervater ist stocksauer auf mich, weil ich mich weigere, der Geschichte weiter nachzugehen. Es ist nur Isabel zu verdanken, dass er die Beförderung nicht zurücknimmt. Er hat mir in seinem Zorn sogar mit Rausschmiss gedroht. Isabel versteht mich zwar auch nicht, aber ich habe ihr versprochen, dass wir noch in diesem Jahr heiraten, wenn sie sich bei ihrem Vater für mich einsetzt. Und das habe ich allein für dich getan! Damit deine Geschichte nicht ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt wird.«
Vivian lachte bitter auf. »Für mich? Wer von uns beiden hat denn wohl etwas davon, dass niemand erfährt, was den alten Maori umtreibt? Das bist doch du. Denn dann läufst du nämlich nicht Gefahr, dass der Ruf der Newmans einen Riss bekommt.«
»Du bist gemein, Vivian!«
»Ja, bin ich das? Wenn ich gemein wäre, dann würde ich zu deinem feinen Schwiegervater gehen und ihm eine ganz andere heiße Geschichte anbieten. Nämlich die von dem Bischof und seinen zwei Kindern! Was meinst du, wie rasch er vergessen würde, dass du seine Tochter heiraten willst? Ich befürchte, dass auch Isabel sich dann schnellstens von dir abwenden würde. Ja, wenn ich gemein wäre, könnte ich dir zeigen, wie es sich anfühlt, wenn du deine zukünftige Familie nur noch von hinten siehst. Und dann würdest du dich in meine Arme flüchten. Aber ich bin nicht gemein und wäre über so einen Sieg nicht froh. Meinetwegen bleibe sein Sohn. Mir ist das gleichgültig. Ich für meinen Teil könnte nie mit so einer Lüge leben!«
Fred betrachtete beschämt seine Schuhspitzen. »Verzeih mir! Aber ich kann nicht anders.« Er machte sich zum Gehen bereit, doch dann wandte er sich noch einmal um. »Ich bewundere dich, von ganzem Herzen, und bedaure, dass ich so feige bin.«
»Und ich bedaure, dass du nicht an dich glaubst. Dass du denkst, du könntest nur auf diesem Weg Erfolg haben. Ich hingegen bin fest davon überzeugt, dass ich es aus eigener Kraft schaffe, nicht in das ungeheizte Zimmer zurückkriechen zu müssen. Ich werde ein besseres Leben als meine Mutter führen, ohne die Menschen, die ich liebe, von mir zu stoßen ...«
Fred vermied es, sie anzusehen.
»Wenn ich noch irgendetwas für dich tun kann, sag es mir bitte«, seufzte er. »Hast du noch genügend Geld?«
Vivian überlegte einen Augenblick lang. »Doch, es gäbe da noch etwas. Meine zwei Koffer stehen noch im Haus des Bischofs. Und unter der Kleidung ist eine Börse mit Geld. Ob du heimlich alles zusammenpacken und mit zur Zeitung nehmen könntest? Sobald ich zurück in Auckland bin, werde ich dir eine Botschaft hinterlassen, wo du mir die Sachen übergeben kannst.«
»Gut, alles, was du willst, aber der Gedanke, dass du fortgehst, ist mir schrecklich.«
Vivian trat auf ihn zu und strich ihm über die blassen Wangen. Die roten Flecken waren aus seinem Gesicht verschwunden.
»Ich liebe dich auch. Trotz alledem! Aber es ist besser, wenn ich am anderen Ende der Welt mein Glück mache. Wir brauchen Abstand voneinander, den größten, den es gibt.«
»Aber schickst du mir wenigstens deine Adresse?«, fragte Fred bang. Dann verfinsterte sich sein Gesicht, denn bevor sie etwas erwiderte, kannte er ihre Antwort bereits.
»Nein, ich möchte nichts wissen über dein Leben. Stell dir nur vor, ich muss dann von kleinen Isabels oder Freds lesen. Es ist gut, wie es ist.«
Vivian stellte sich auf die Zehenspitzen und gab Fred einen Kuss auf die Wange. Er wollte die Gelegenheit beim Schopf packen und sie an sich ziehen. Sie wich ihm aus.
»Mach es gut, Bruder!«, raunte sie. Er aber konnte sich beim besten Willen nicht von ihrem Anblick losreißen.
»Man könnte glauben, dass du eine weise Frau bist«, murmelte er.
»Wer weiß? Vielleicht ist da ja etwas dran«, erwiderte sie geheimnisvoll lächelnd und wandte sich von ihm ab. Das Lächeln gefror ihr erst zur Maske, als Freds davoneilende Schritte endgültig verklungen waren.